Governance-Experte Robert Arthur Williams im Interview

Grafische Darstellung einer DAO

„Die Technik wird die Menschen nicht grundlegend verändern, aber sie wird ihnen die Möglichkeit dazu geben.“

Das Dezentrale Finanzwesen, kurz „DeFi“, ist ein schnell wachsender Bereich in der Blockchain-Umgebung. Wir sprachen mit Robert Arthur Williams über die aktuellen Herausforderungen dezentraler Finanzsysteme. Williams arbeitet als „Governance Facilitator“ bei Centrifuge, einer Krypto-Plattform, welche die Kreditvergabe für kleine bis mittelständige Unternehmen erleichtern will.

Was läuft deiner Meinung im heutigen Finanzsystem schief?

Ich denke, viele Menschen erachten es als einseitig, weil es nur Wenige begünstigt. Es ist intransparent, wenn es um die Kreditwürdigkeit von Privatpersonen und Unternehmen geht. Außerdem basiert das bestehende Finanzsystem auf uralten Datenbanken und überholten Codes.

In Krypto-Kreisen wird seit Jahren über die Disruption der Finanzwelt gesprochen – unter dem Stichwort „DeFi“, eine Abkürzung für „Decentralized Finance“. Was kann man sich darunter vorstellen?

Es ist ein Sammelbegriff, der darauf abzielt, ein neues Finanzsystem aufzubauen, das Blockchains nutzt, um traditionelle Mittler zu ersetzen.

Für Neulinge, bitte.

Im Kern geht es darum, die Banken zu umgehen und neue Plattformen für die Kreditaufnahme und -vergabe zu schaffen. Im dezentralen Finanzwesen werden Mittler durch Blockchain-Technologie ersetzt. Anstatt über Banken zu handeln, handeln die Menschen direkt miteinander, wobei Blockchain-basierte „Smart Contracts“, wie sie genannt werden, die Arbeit der Marktbildung übernehmen und sicherstellen, dass der gesamte Prozess fair und vertrauenswürdig ist.

Die Banken umgehen? Das hat lange Tradition.

Ja, schon bei der Gründung von Bitcoin ging es darum. Im Jahr 2009 bezog sich der berühmte Genesis-Block auf die Bankenrettung während der Finanzkrise. Wer auch immer Bitcoin erdachte, beabsichtigte auch die Banken und das bestehende System zu verändern.

Kryptowährungen waren anfangs eine echte Nische für Tech-Leute, einige Libertäre und frühe Investoren, die an das Konzept glaubten und die Technologie von Anfang an verstanden. Dann wuchs das Volumen. Die Leute versuchten, enorme Gewinne zu machen. Letztendlich fungieren Bitcoin, DeFi und andere als eine Art Trojanisches Pferd, eine Art Einfallstor.

In welchem Sinne?

Sie locken mehr Leute an. Nach dem Motto: Erst kommt man wegen des Geldes, dann bleibt man wegen der Philosophie. Natürlich bleibt nicht jeder wegen der Philosophie, aber es scheint, dass immer mehr Menschen wegen der Möglichkeiten bleiben, die ihnen diese Technologie bietet.

Kevin Werbach, Professor an der Wharton School of Pennsylvania, vertritt die Ansicht, dass „DeFi die Finanzwelt revolutionieren wird, indem es kostspielige und kontrollierende Vermittler bei Finanztransaktionen eliminiert.“ Ist das eine Möglichkeit?

Ja, das ist ein Faktor. Effizienter zu werden, indem man öffentliche Blockchains und Open-Source-Software nutzt und die Mittler aus der Gleichung herausnimmt. Das kann die Kosten auf Unternehmensebene senken. Gleichzeitig kann es auch die Art und Weise verändern, wie Kredite vergeben werden. Die Entscheidung einer Bank, jemandem Geld zu leihen, ist auf viele verschiedene Arten von Ungerechtigkeit geprägt.

Inwiefern?

Wenn du aus einem bestimmten Land, einem Bezirk oder einer Stadt kommst oder einen bestimmten ethnischen oder rassifizierten Hintergrund hast, bekommst du seltener einen Kredit. Bei Centrifuge versuchen wir deswegen, Wege zu entwickeln, um die Kreditvergabe und -aufnahme zu dezentralisieren.

Wie genau kann das funktionieren?

Es ist fast so, als würde man ein Kreditsystem von Grund auf neu aufbauen. Momentan ist es eine Art Hybrid. Bei der Kreditvergabe werden immer noch Kreditratings verwendet, aber es gibt auch eine Art internes System, um Blockchain-native Kredite für die Plattform zu erstellen. Im Laufe der Zeit, wenn On-Chain-Methoden zur Kreditermittlung robuster und etablierter werden, wird es einen offeneren und faireren Zugang zur Kreditvergabe ermöglichen. Wenn du ein kleines oder mittleres Unternehmen bist, wird es kostengünstiger sein. Und du wirst weniger Probleme mit willkürlichen Entscheidungen haben, die Banken treffen können, wenn es darum geht, dir einen Kredit zu verweigern oder zu bewilligen.

Die Vision ist es also, zukünftige Entscheidungen dem „Protokoll“ zu überlassen und nicht irgendwelchen Instanzen. Die Plattform tritt hinter der Technologie zurück, so die Idee. Das bedeutet doch in gewisser Weise, mit der Zeit sich selbst abzuschaffen …

Blockchain basiert ja auf der Grundidee, dass niemand die Einträge im Hauptbuch ändern kann. Es ist ein Peer-to-Peer-System. Von den Menschen und für die Menschen. Ein Aspekt davon ist die Tatsache, dass wichtige Änderungen des Protokolls über sogenannte Governance-Token geregelt werden können.

Bitte erkläre das.

Governance-Tokens sind Blockchain-Tokens, die ihren Nutzern Stimm- und Verwaltungsrechte einräumen. Das können Upgrades im Protokoll sein oder die Änderung der Zinsrate, mit der Nutzer für ihre Investitionen belohnt werden. Am Ende kann ein Kreislauf entstehen: Der eigentliche Governance-Prozess wird wiederum durch Governance verändert. Bei Centrifuge sind solche Prozesse derart konzipiert, um Anreize für Menschen zu schaffen, sich konstruktiv und ethisch zu verhalten.

Michael Hsu, der amtierende US-Währungshüter, hält dagegen, dass viele DeFi-Produkte ihn an die Credit Default Swaps erinnern, die 2008 die Finanzkrise mitverursachten. US-Senatorin Elizabeth Warren bezeichnete DeFi als das Gefährlichste an Kryptowährungen. Warum sorgen sie sich?

Meiner Meinung nach besteht die Angst darin, dass sie ihren Anteil als Mittler verlieren.

Und damit auch Kontrolle?

Ja, die meisten Politiker oder Organisationen, die gegen Kryptowährungen sind, versuchen, sie als etwas Gefährliches und Unregulierbares darzustellen. Sie könnten zum Beispiel zur Geldwäsche oder für ruchlose Zwecke genutzt werden. Aber der Prozentsatz solcher Aktionen auf DeFi-Plattformen im Vergleich zum Gesamtbild ist sehr gering. Einige Leute haben einfach Angst, ihren Einfluss und ihr Geld zu verlieren, glaube ich. Sie haben diese Propaganda lanciert, um einen Vorwand zu finden, sie zu regulieren. Nun, das ist jedenfalls meine Meinung.

Hacks gegen DeFi-Dienste und allgemeiner Betrug führten laut New York Times im Jahr 2020 zu Verlusten von mehr als 100 Millionen Dollar. DeFi-Dienste erscheinen unausgegoren, melden sich andere kritische Stimmen zu Wort.

Nun, es gibt definitiv Betrug. Einige Teams, die ein Projekt starten, hauen mit deinem Geld ab. Der durchschnittliche Investor muss darüber aufgeklärt werden. Manchmal hören sie von einem Freund von einem Projekt oder sehen eine Werbung irgendwo. Sie tun das, was man „aping into it“ nennt.

Das bedeutet?

Sie stürzen sich wie ein Gorilla in das Geschehen und schmeißen ihr Geld zum Fenster raus. Jede Investition bedarf der Vorsicht. Wenn du ein Projekt siehst, bei dem die Gründer anonym sind, dann ist das ein ziemlich großes Warnsignal. Es bedeutet, dass sie höchstwahrscheinlich mit deinem Geld verschwinden, wenn du nicht vorsichtig genug bist. Größtenteils bewahrt einen der gesunde Menschenverstand vor solchen Schäden. Aber wenn Menschen gierig sind, ignorieren sie das. Das gilt ja nicht nur für die Krypto-Welt.

Es gibt auch Plattformen, die wirklich Unhaltbares versprechen, beispielsweise 1.000% jährliche Rendite, ziemlich absurde Zahlen, die auf Mechanismen beruhen, die meist nicht nachhaltig sind, wie das Hin- und Herschieben verschiedener Token und das Waschen von Liquidität. Centrifuge ist anders aufgestellt. Es spricht eher Investoren an, die auf der Suche nach stabileren Renditen sind, die auf realen Vermögenswerten basieren.

Welches Problem löst Centrifuge am Ende?

Centrifuge ermöglicht es Unternehmen, reale Vermögenswerte in Krypto-Assets als NFTs zu tokenisieren, die als Sicherheit für Kredite verwendet werden können. Stell dir vor, du besitzt Vermögenswerte wie eine Hypothek, Handelsrechnungen oder Musikstreaming-Lizenzen – rechtliche Dokumente, die dir irgendwann einen Anspruch auf Bargeld geben. Als sogennanter „Asset Originator“ kannst du Tinlake nutzen, um diese Vermögenswerte in NFTs umzuwandeln, die mit allen notwendigen rechtlichen Dokumenten versehen sind, einen Pool von Vermögenswerten bilden und dann kannst du einen Kredit aufnehmen, der diese Vermögenswerte als Sicherheiten nutzt.

Kannst du ein konkretes Beispiel geben?

Centrifuge hat sich mit Paperchain zusammengetan, einem Startup, das Kreativen hilft, ihre Musikstreaming-Tantiemen vorzeitig zu erhalten, indem es diese Tantiemen tokenisiert. Das Verkaufsargument lautet hier: Wenn du als Artist Tantiemen über Spotify generierst, dauert es mindestens ein paar Monate, bis du dein Geld bekommst. Das ist für viele Artists nicht ideal. Die Idee ist, dass du schneller bezahlt werden kannst, indem du einen kleinen Betrag an Zinsen zahlst. Du nutzt deine Tantiemen also als Sicherheit.

Wie stellt ihr sicher, dass Centrifuge nicht zu einer weiteren großen Plattform wird – ganz im Stil von Web2?

Ich denke, dass es bei den meisten Projekten so ist, dass jemand zuerst anfangen muss, etwas aufzubauen, den Ton für das Projekt anzugeben und das Konzept festzulegen. Die Idee der Dezentralisierung ist für alle eine neue Grenze. Ich glaube nicht, dass irgendjemand genau weiß, wie es sich entwickeln wird. Es ist immer noch eine Art Experiment. Aber der Aspekt der Dezentralisierung unterscheidet es grundlegend vom Web2.

Glaubst du, dass DeFi die Art und Weise, wie wir Dinge bewerten, verändern kann?

Die Technik wird die Menschen nicht grundlegend verändern, aber sie wird den Menschen die Möglichkeit dazu geben.

Bist du immer noch ein Krypto-Enthusiast?

Ich wurde 2013 zum ersten Mal auf Bitcoin aufmerksam und habe 2017 angefangen zu investieren. Damals war alles ganz anders. Fast alles war Vaporware. Das ist immer noch so, allein schon wegen der schieren Menge an Produkten da draußen. Ich würde sagen, dass jede Welle, jede Iteration ausgereifter, seriöser und für die Durchschnittsperson zugänglicher wird. Ich glaube, ich bin da ein Optimist.

Im Moment gibt eine kleine Blase mit NFTs, die wahrscheinlich in nicht allzu ferner Zukunft implodieren wird. Aber in vier oder fünf Jahren wird es interessant sein zu sehen, wie sich das Konzept entwickelt, wenn die Krypto-Plattformen skaliert und zugänglicher werden, die Benutzeroberfläche und das Nutzererlebnis verbessert wird.

Krypto wird die Welt verändern. Das Potenzial ist ziemlich erstaunlich: Der Ethos der Dezentralisierung, Zugänglichkeit, Open Source und persönliche Souveränität. Diese Konzepte sind nicht völlig neu. Sie manifestieren sich nur auf eine neue Art und Weise im Zusammenhang mit der Blockchain. So war das Internet ursprünglich auch gedacht. Es sollte eine Möglichkeit für die Menschen sein, sich offen auszudrücken. Aber leider hat es sich zusammengeballt. Die großen Tech-Unternehmen haben einfach die Kontrolle über die Informationen aller übernommen. Das ist ein Paradigma, das sich mit der Blockchain-Technologie ändern könnte: digitale Souveränität und Kontrolle über die eigenen Daten.

Wir sprechen gerade über die Vorstellung eines Web3. Ein „Internet, das den Erbauern und Nutzern gehört und mit Token gesteuert wird“, wie es der Investor Packy McCormick beschreibt.

Ich meine, niemand braucht zum Beispiel Facebook. Vieles hängt von der menschlichen Psychologie ab und davon, wie sehr die Menschen bereit sind, die Kontrolle über ihre Daten zu übernehmen. Es gibt das Argument, dass die Menschen nicht wirklich die Zeit oder die Motivation haben, sich um solche Dinge zu kümmern. Das ist der Grund dafür, dass die großen Technologieunternehmen die Kontrolle übernehmen konnten. Ich glaube, die Menschen sind nicht per se faul, sondern sie wollen einfach nicht über diese Dinge nachdenken. Sie wollen mit ihrem Leben weitermachen, Spaß haben und Zeit mit ihren Familien verbringen. Sie wollen nicht unbedingt darüber nachdenken, dass sie in irgendeinem Protokoll als Miteigentümer mit Stimmrecht auftauchen. Die Entwickler müssen also einen Weg finden, es den Menschen so einfach wie möglich zu machen, sich zu beteiligen.

Am Ende könnte jede Person ihre Entscheidung wieder abgeben …

Ich denke viel darüber nach. Für wen gibt es eigentlich einen Anreiz, sich an der Governance zu beteiligen? Der durchschnittliche Investor will einfach nur Geld verdienen. Der Weg, die Beteiligung zu erhöhen, ist vermutlich, die Dinge so einfach wie möglich zu gestalten und ein Engagement dafür zu schaffen. Nehmen wir an, du hast eine Dezentrale Autonome Organisation, eine DAO …

… eine Gemeinschaft ohne zentralisierte Führung ….

Genau, sie hat einen bestimmten Zweck im Sinn. Nehmen wir an, du hast eine DAO, die Bäume pflanzen und die Wasserversorgung in ihrer Stadt verbessern will. Das ist ein einziger Zweck, der leicht zu verstehen und zu verdauen ist. Diese Form der Governance ist viel einfacher, weil sich die Menschen leicht damit identifizieren können.

Könnte es einfacher sein, Governance auf kommunaler Ebene zu verankern – und dort neue Gemeinschaften zu bilden?

Ja, es kann die Art und Weise, wie sich Gemeinschaften organisieren, wirklich revolutionieren. Token sind im Grunde genommen Wahlsysteme, nicht wahr? Irgendwann wird es nicht mehr unbedingt um handelbare Token gehen, die einen Marktwert haben. Sie können rein organisatorisch oder politisch genutzt werden. Die Blockchain-Technologie bietet die Möglichkeit, eine Organisation mit einem bestimmten Ziel zu gründen, ohne dass man einen Mittler braucht. Du schreibst einfach die Regeln in den Code und jede Person hat ein gewisses Stimmrecht. Nehmen wir an, es gäbe eine lokale Gemeinschaft, die Bäume pflanzt, und sie hieße „Mexico City Tree DAO“, du weißt schon …

Bitte fahre fort.

Welches Governance-Token auch immer für diese DAO existiert, es muss keinen Marktwert haben. Du kannst die Technologie nutzen, um Menschen auf eine Weise zu organisieren, die außerhalb der traditionellen Regierungsmechanismen liegt. Natürlich werden die Menschen manchmal durch die Aussicht auf finanziellen Gewinn angelockt, wie ich bereits sagte. Aber die Technologie hat das Potenzial, die Art und Weise, wie Menschen miteinander interagieren und sich für verschiedene Ideen und Anliegen zusammenschließen, wirklich zu revolutionieren. Ein Teil davon kann für ein freieres und offeneres Verleihprotokoll wie Centrifuge sein. Die Möglichkeiten sind wirklich endlos.

Wir danken dir für das Gespräch, Robert.

Das Interview wurde am 30. März 2022 in Mexiko-Stadt aufgezeichnet.

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