Die Vermessung der Erde

Video-Ausschnitt von ÆRTH-Simulation, © ÆRTH

Adina Popescu war eine Pionierin im Bereich Virtual Reality, bis sie sich mit den Möglichkeiten von Blockchain und Web3-Anwendungen auseinandersetze. Im Interview erklärt die studierte Philosophin, wie sie mit ihrer neuen Plattform ÆRTH, die Art und Weise ändern möchte, wie wir Daten über unsere Erde miteinander teilen. Die Vision: Ein digitaler Zwilling, der mehr über die Zukunft der Gesundheit unseres Planeten verrät.

Satelliten liefern bereits Informationen über den Zustand der Erde. Es lassen sich Treibhausgase, Unwetter oder Vulkanausbrüche messen. Mit ÆRTH wollt ihr einen Schritt weitergehen – und einen digitalen Zwilling der Erde erstellen.

Auch große Unternehmen wie IBM in den USA oder Tencent in China arbeiten gerade an einem sogenannten Digital Twin. Bei uns ist das Besondere, dass wir ihn dezentral und quelloffen umsetzen wollen.

Für Neulinge: Was ist generell an der Idee des digitalen Zwillings so spannend?

Man kann in Echtzeit sehen, was in einem Ökosystem passiert – und so den Gesundheitszustand der Erde ablesen. Anhand von Satellitendaten und dem, was man In-situ-Daten nennt. Also Daten, die vor Ort durch Sensoren erhoben werden und etwa die Reinheit des Wassers oder der Luft messen. Dazu kommen Aufnahmen von Drohnen oder aus dem Flugzeug. Durch die Kombination lassen sich wertvolle Einblicke gewinnen.

Wie schwierig ist, solche Daten zu bekommen?

Wir leben in einer Welt, in der unglaublich viele, offene Daten erhoben werden – überall und jederzeit. Sei es von NGOs, lokalen Messstationen oder der NASA, die Daten aus dem All liefert. In den letzten Jahren ist die Bewegung der „Citizen Science“ hinzugekommen. Gerade in Indien gibt es viele Studenten, die Sensoren aufstellen, um die Luftverschmutzung zu messen. Sie gehen davon aus, dass die Zahlen der Regierung nicht korrekt sind. Kurzum: Es wird eine Unmenge von Daten erhoben, die eigentlich verwertet werden könnten.

Wie wollt Ihr diesen Datenschatz bergen?

Wären wir ein Unternehmen, würden wir Daten extrahieren, modellieren und weiterverkaufen. Das wäre klassisches, zentralistisches Data Business, wie es Facebook oder IBM betreiben. Darauf basiert im Grunde die gesamte, digitale Ökonomie. ÆRTH ist hingegen als Dezentrale Autonome Organisation angelegt. Unser Ansatz ist ein anderer.

Worin liegt der Unterschied?

Wir wollen eine Plattform schaffen, auf der alle Menschen Einblicke über den Gesundheitszustand der Erde bekommen können. Wir fragen, wie wir all diese unglaublich tollen Wissenschaftler auf der Welt, Citizen Scientists, Studenten und smarte Kids incentivieren können, an Umweltdaten zu arbeiten – und das open source, ohne dass die Daten monetarisiert werden. Die Blockchain-Technologie bietet eine Möglichkeit dazu, zum Beispiel durch einen Reward-Token.

Erkläre, bitte.

Wir können mit ÆRTH zum Beispiel auf öffentliche Datensätze eine sogenannte Bounty hinterlegen, sodass Wissenschaftler aus aller Welt einen Anreiz haben, sich der Daten anzunehmen. Die Idee ist, einen ÆRTH Token einzuführen und etwa Millionen Tokens in eine Krypto-Wallet zu legen.

Ein Wissenschaftler, der zum Beispiel einen riesigen Datensatz der NASA herunterlädt, ihn aufräumt und daraus ableitet, wieviel Kohlenstoff in einer Amazonasregion gespeichert ist, wird mit der hinterlegten Bounty belohnt. Am Anfang mag der ÆRTH Token noch wertlos erscheinen. Je mehr Menschen sich beteiligen, je mehr Wissen sie aus dem rohen Daten kreieren, desto wertvoller wird der ÆRTH Token – und desto mehr erfahren wir gleichzeitig über die Gesundheit unserer Erde.

Braucht es dafür nicht auch kommerzielle Anreize?

So wie ich Wissenschaftler gerade erlebe, haben sie großes Interesse am Austausch mit anderen Wissenschaftlern. Unter dem Begriff „Decentralized Science“ findet in der Krypto- und Blockchain-Welt gerade ein regelrechter Boom statt.

Inwiefern?

Es geht darum, weltweit an großen Datensätzen und Problemstellungen zu arbeiten – ohne Patentrechte zu verletzen oder auf diese Corporate-Haltung zu stoßen: Du darfst meine Daten nicht sehen, ich darf deine nicht sehen. Wissenschaftliche Forschung lässt sich auf diese Art und Weise schlecht skalieren.

Kaum jemand setzt sich ohne Verdienst für Gemeingüter ein, so wurde in den Wirtschaftswissenschaften bisher die Tragik der Allmende beschrieben …

Die ÆRTH-Community verdient daran. Das Schöne an einer Token Economy ist die neue Art des Wert-Tausches und der Wertschöpfung. Bei vielen dezentralisierten Blockchain-Protokollen war Anfangs der Token nichts wert, hat aber dann rapide an Wert gewonnen, sobald viele Entwickler partizipieren: Token Economies sind von vornherein auf Kollaboration angelegt und skalieren durch Interoperabilität, anders als die eher traditionellen Firmen-Silos.

Jene, die anfangs den Token halten und an das System glauben, können durchaus einen Gewinn machen. Ein Bitcoin war für die ersten Miner auch noch nicht wertvoll. Wie man sieht, hat sich das geändert. Mein Wunsch wäre, dass jeder Ærthling einen ÆRTH-G-Token, ein Governance- and Voting-Token, hält und dass der Zugang zu Informationen zur Gesundheit unserer Erde in der Verantwortung aller liegt.

Elinor Ostrom, die erste Frau die den Alfred-Nobel- Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten hat, hat nachgewiesen, dass Menschen dazu imstande seien, gemeinsame Ressourcen in einem Ökosystem nachhaltig zu nutzen. Glaubst du, dass Verantwortung sich dezentralisieren lässt?

Ostrom hat sehr gut gezeigt, dass Menschen die Natur schützen, sobald sie in direkter und täglicher Abhängigkeit von deren Ressourcen leben. Die Art und Weise wie etwa Indigene Gemeinschaften mit ihrer Umwelt umgehen und diese regenerieren, hat einen viel höheren Impact als eine Organisation, die geographisch weit entfernt ist. Je mehr Transparenz wir darüber gewinnen, was eigentlich “Human Impact“ ist, desto zielgerichteter können wir Lösungen unterstützen – und vor allem die Menschen vor Ort.

Kannst du ein praktisches Beispiel nennen, das auf der Plattform ÆRTH realisiert werden könnte?

Nehmen wir den „Pacific Garbage Patch“, eine Insel von Plastikmüll, die im Meer treibt. Niemand fühlt sich dafür verantwortlich, weder Staaten noch diejenigen Unternehmen, die das Plastik herstellen.

Der junge Erfinder Boyan Slat hat hingegen ein System entwickelt, um das riesige Müllfeld im Pazifik aus dem Meer zu fischen. Außer Spendengelder gibt es aber kein richtiges Geschäftsmodell, um das Vorhaben umzusetzen. In ÆRTH können wir jedoch einen Aufruf starten, um Boyan Slat über einen definierten Zeitraum zu unterstützen. Große Unternehmen könnten sich mit Millionen beteiligen, indem wir den Impact seiner Lösung auf der Basis von Echtzeitdaten simulieren.

Video-Ausschnitt von ÆRTH-Simulation, © ÆRTH
Ausschnitt von ÆRTH-Simulation, © ÆRTH

Wie würde das funktionieren?

Ein von uns initiierter DeSci-DAO– eine Decentralised-Science- Autonomous-Organisation – würde institutsübergreifend tätig werden und Zukunftsszenarien über unsere Umwelt zur Verfügung stellen.

Die Idee ist, dass wir über unsere intrinsische Ökonomie immer mehr Bounties in die DeSci-DAO legen können und immer genauere Kurz-und Langzeit-Vorhersagen über den Zustand unserer Umwelt und unserer Ressourcen abgeben können. Diese Simulationen sind sehr arbeits- und rechenintensiv. Wenn Wissenschaftler ein Framework haben, in dem sie Processing-Power und Informationen teilen, können wir schneller skalieren und viel mehr granularer in den Zukunftsszenarien werden.

Auswirkungen in der realen Welt wären also auch auf ÆRTH ersichtlich?

Ja, die Simulationen werden auf ÆRTH visualisiert. Man kann sehen wie die Zukunft aussieht, wenn zum Beispiel der Amazonas zur Tundra wird. Man kann auch Lösungen simulieren, um etwa zu sehen, ob Elon Musks Carbon-Capture-Investment wirklich kurz- oder langfristig etwas bringen wird. Damit skalieren wir nicht nur Wissenschaft, sondern auch Lösungen.

Auf eurer Webseite weist ihr auf eine Zusammenarbeit mit der Organisation Fundação Txai hin, die im Amazonasgebiet arbeitet. Gibt es Pilotprojekte dort?

Ja, wir möchten gerne im Amazonasgebiet anfangen und schauen, wie wir dort mit der Unterstützung der Tribes, Lösungsansätze simulieren und sie stärken können. Für uns ist es wichtig, die indigenen Gemeinschaften einzubinden – und im Zuge der Governance Mitspracherechte zu vergeben, sodass alle eine Stimme abgeben können, was die Lösungsansätze angeht.

Video-Ausschnitt von ÆRTH-Simulation, © ÆRTH
Ausschnitt von ÆRTH-Simulation, © ÆRTH

Auch wenn Mitspracherechte vergeben werden, steht die Blockchain-Technologie im Verruf gewaltige Energie zu verbrauchen. Eine einzige Ethereum-Transaktion verbraucht bislang so viel Energie, wie ein US-amerikanischer Haushalt in einer Woche. Was entgegnest Du zweifelnden Menschen, die Blockchain und Umweltschutz unvereinbar halten?

Ich glaube, man muss ganz klar sagen: Das, was unvereinbar ist, ist nicht Blockchain und Umweltschutz. Das, was unvereinbar ist, ist Digitalität und Umweltschutz. Unsere gesamter digitaler Footprint, also der Energieverbrauch von all den Zoom-Meetings bis Katzenvideos, die wir auf YouTube von links nach rechts schicken. Dieser Energieverbrauch ist massiv. Plus, die ganze Technologie, die wir verwenden von Batterien, Chips, Computern, Handys, die alle auf Raubbau basieren. Im Grunde ist alles, was digital ist, erst einmal schwer mit Umweltschutz zu vereinen.

Wie entgeht man diesem Dilemma?

Für uns ist das eine Challenge. Wir möchten, dass ÆRTH einen globalen Impact hat. Gleichsam sind wir uns bewusst, dass Digitalität im Allgemeinen einen enormen Footprint verursacht. Der Grund, warum man das bei einer Blockchain nachweisen kann, ist, weil die Daten offen und rückverfolgbar sind. Bei einem VISA-Abrechnungssystem oder einem Youtube-Channel ist das nicht der Fall, niemand kennt ihren Carbon Footprint.

Gleichsam hat diese Nachweisbarkeit und Transparenz des Blockchain-Footprints dazu geführt, dass Innovationen in kürzester Zeit stattfinden. Das Blockchain-Projekt Solana verwendet lediglich ein Bruchteil der Energie, die eine Bitcoin-Blockchain verwendet. Ethereum wechselt Ende des Jahres auf Proof-Of-Stake und wird enorm energieeffizienter.

Die ideale Blockchain hat beides: die Verifizierung über einen energieeffizienten Konsensus-Mechanismus und Strom aus natürlichen Ressourcen. Ich glaube, dass Blockchains in kürzester Zeit sauberer sein werden, als unsere alten Banking-Systeme, Datenspeicher und digitale Plattformen, die wir gerade verwenden – genau wegen der Nachvollziehbarkeit. Greenwashing ist hier eigentlich kaum möglich.

Eine persönliche Note: Was hat Dich veranlasst, ÆRTH zu gründen?

Ich war anfangs im Bereich Virtual Reality tätig. Ich habe 2014 Apple zu VR und dem Metaverse beraten und mit Scott Ross, ehemaliger Kreativpartner des Avatar-Regisseurs James Cameron, zusammengearbeitet und mit Brett Leonard VR-Formate entwickelt. So bin ich früh auf die Vorstellung des Metaverse gestoßen – und fand alles sehr problematisch.

Inwiefern?

Weil ich früh gemerkt habe, wie Daten erhoben werden. Consumer Data auf dem Handy oder in sozialen Medien ist schon problematisch genug. Das ändert sich noch mal drastisch, wenn Menschen erst mal ein Headset aufsetzen. Das Ausmaß an Überwachung und der Erfassung war nicht mehr vereinbar mit dem, was ich als demokratiefähig erachtete.

Welche Szenarien fandest du beunruhigend?

Mit einem Headset kannst du sehr viel messen. Zunächst, Eye-Tracking. Ein Tracking, das registriert, wo dein Blick hingeht. Das sagt viel über eine Person aus. Dann Temperaturveränderungen, das Messen von Mikro-Mimik. Du kannst einen unglaublichen Einblick in den emotionalen Zustand eines Menschen gewinnen. Wenn Cambridge Analytica allein anhand von Daten des Facebook-Konsums, die politische Haltung ablesen und beeinflussen konnte, so ist kaum vorstellbar, welchen Einblick man durch ein Headset bekommen kann.

Du hast also einen anderen Weg eingeschlagen.

Ich habe 2015 angefangen, mich mit Blockchain auseinanderzusetzen, weil ich wissen wollte, wie Verschlüsselung dabei helfen kann, dass Menschen mehr Souveränität über ihre eigene Daten gewinnen.

Deswegen finde ich Web3 wichtig – und ÆRTH ist eine Web3-Applikation. Web3 bedeutet eben nicht, wie Viele denken, dass sie ihre NFTs von einem Game ins nächste exportieren können. Web3 bedeutet, dass unsere gesamten Daten komplett dezentral gespeichert werden und wir alleinigen Zugriff auf die Daten haben, die unserer Hoheit unterliegt. Wie in unserem DeSci-DAO eben: um Vertrauen in die Informationen über den Zustand unserer Erde zu vermitteln und die Manipulation von Informationen durch eine zentrale Instanz unmöglich zu machen.

Für dich stellen also Web3-Anwendungen die Zukunft der Digitalität dar?

Absolut. Web3 ist für mich eine Zukunft der Digitalität, in der das Daten-Backend nicht von wenigen Monopolen wie Meta oder Google kontrolliert wird. Dabei gibt es einerseits Daten, die intim und persönlich sind. Sie sollten der eigenen Datensouveränität unterliegen; jeder Mensch soll entscheiden, was er freigeben oder teilen möchte.

Andererseits sollte es Data Commons geben, also Daten, die für alle einsehbar und zugänglich sind, wie etwa Umweltdaten. Die Luft, die ich atme, geht mich persönlich an, die Erde auf der ich lebe, auch. Die Revolution wird also nicht länger im Front-End stattfinden, sondern im Back-End. Sie trägt die Namen Datensouveränität und Data Commons.

Aufgezeichnet am 31. Mai in Mexiko-Stadt, von Frank Steinhofer

,